#ibes

Drohungen bzw. Hilfeschreie fliegen momentan quer durch das Twitter-Universum. Gemeinsam ist ihnen das für viele seltsam anmutende Kürzel „#ibes“. Was steckt da eigentlich dahinter und vor allem: warum dieser aggressive Ton?

Nun, momentan erreicht RTL mit seiner Seelenstrip-Show „Das Dschungelcamp“ höchste Zuschauerquoten und das vor allem auch in einer Zielgruppe, die in sozialen Medien wie Twitter und Facebook aktiv ist. Längst hat sich ein Phänomen namens „Second Screen“ etabliert: parallel zum TV-Konsum (first Screen) informiert man sich auf einem Smartphone, Tablet oder (weniger) PC über das laufende Programm und beteiligt sich darüber hinaus an Diskussionen darüber. Die Sender selbst haben daran natürlich massives Interesse und ermuntern zum Aufruf des zusätzlichen Web-Angebots, denn darüber lassen sich weitere Werbeeinnahmen generieren. Doch das soll jetzt nicht Thema sein (auch nicht die erschreckende Hilflosigkeit und fehlende Professionalität der „Social Media Teams“ einiger Sender bei der Teilnahme an diesem kommerziell wohl noch völlig unterschätzen Phänomen), zurück zu Twitter.

Timeline vs. Hashtag: Mitlesen auf Twitter

Neben der eigenen Aktivität des Postens von Meldungen sieht die übliche Verwendung von Twitter beim Lesen so aus: Man folgt bestimmten Personen aktiv, d.h. man bekommt deren Tweets in seine „Timeline„, eine chronologische Abfolge von Kurzmitteilungen, die sich laufend aktualisiert. In den meisten Fällen hat man bei Nutzern auf „Follow“ geklickt, an deren Äusserungen man interessiert ist.

Eine zweite typische Anwendung ist das Lesen im offenen Twitter-Universum über „Hashtags„. Will ich Aktuelles über ein bestimmtes Thema erfahren, z.B. „GEMA“, dann filtere ich direkt nach dem Hashtag „#gema“ und bekomme nun, ständig aktualisiert, alle entsprechend gekennzeichneten Tweets dazu. Und das jetzt nicht nur von den Personen, denen ich aktiv folge, sondern von allen Nutzern weltweit. Möchte ich selbst etwas zur Diskussion beitragen, dann bringe ich den entsprechenden Hashtag in meiner Meldung unter und diese damit automatisch auf den Schirm der anderen. Verständlicherweise spielt diese Anwendung bei „Second Screen“ die Hauptrolle und zwar vor allem während eine TV-Sendung ausgestrahlt wird.

Zwei Communities kollidieren

Genau im Unterschied zwischen diesen beiden Verwendungsarten liegt der oben zitierte, aktuelle Unmut vieler Benutzer begraben. Denn ich bewege mich zwar immer im virtuellen Raum des Social Web, nehme aber, je nach Verwendung, an unterschiedlichen Twitter-Diskussionsrunden teil:

  • Die eine ist die meiner Timeline, also der Menschen, denen ich bewusst folge. Bunt gemischt, die Meldungen zu verschiedensten Themen. Wo ich zuhöre, schmunzle, antworte, mitdiskutiere.
  • Die andere aber, und hier kommen wir zum Dschungelcamp zurück, ist die, in der es nur um die aktuelle RTL-Sendung und deren Hintergründe geht: Tweets zum Thema Dschungelcamp, gekennzeichnet durch den offiziellen Hashtag „#ibes“ („Ich bin ein Star…“).

Was passiert also? Twitter-Nutzer, die ganz regulär in der Community ihrer Timeline kommunizieren und sich möglicherweise nicht die Bohne für die RTL-Sendung interessieren, bekommen nun von einigen Leuten, denen sie folgen, laufend Tweets mit oft unverständlichem Inhalt und dem Hashtag „#ibes“ vorgelegt. Das passiert deswegen, weil diese Leute zwar in ihrer Timeline-Community sind, aber momentan mit ganz anderen Leuten reden, nämlich denen der riesigen Dschungelcamp-Community. Dort, wo im Sekundentakt aktuelle Beobachtungen und Meinungen zur aktuell laufenden Sendung in die Runde geworfen werden.

Verlagerung der Aufmerksamkeit, Narzissmus und die Folgen

In folgendem Modell zeige ich, wie die Kommunikation dann im Bild meiner „Kneipentisch“-Analogie aussieht.

Twitter-Dschungelcamp

Einige Teilnehmer der jeweiligen Tische „Timeline“, also der Communities, die sich aus gegenseitigem Folgen und bewusster Kommunikation untereinander gebildet haben, richten einen grossen Teil ihrer Aufmerksamkeit (temporär) nicht mehr auf die Gespräche am Tisch ihrer Timeline sondern auf den virtuellen Tisch der Community „#ibes“. Dort nehmen sie aktiv, dh. durch Posten, Retweeten, Antworten und Favorisieren, an der Kommunikation teil.

Dazu verlassen sie aber den Tisch ihrer Timeline nicht (ihre Follower bekommen ja weiterhin alle ihre Tweets), sondern brüllen quasi vom Tisch aus quer durch den Raum. Dadurch entwickelt sich eine mitunter heftige soziale Dynamik, deren Zentralmotiv ich im Konflikt mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen sehe.

Typisches Reaktionsmuster

Beim einzelnen Teilnehmer am Tisch „Timeline“ (Follower) läuft folgendes Reaktionsmuster ab:

  • Der #ibes-Twitterer entzieht signifikant Aufmerksamkeit vom Tisch „Timeline“ und verlagert sie auf den Tisch „#ibes“
  • Durch seine erhöhte Aktivität, die möglicherweise wesentlich über der gewohnten liegt, entsteht der Eindruck einer höheren Wertschätzung für eine andere Community.
  • Dadurch relativiert sich der Eindruck der Wertschätzung für die eigene Timeline-Community, was sich direkt auf jeden Einzelnen der Teilnehmer abbildet.
  • Das narzisstische Selbst des Einzelnen rebelliert dagegen.
  • Die resultierende Aggression wird direkt gegen den Akteur (#ibes-Twitterer) oder dessen Verhalten gerichtet.
  • Wenn das nicht zugelassen werden kann, kanalisiert sich die Aggression auf das auslösende Thema (Dschungelcamp).
  • In beiden Fällen des Reaktionsmusters findet Abwertung statt, hin bis zum „Opfern“ der Person oder Sache, die bisher den narzisstischen Benefit lieferte.
  • Bis zum „Opfern“ kommt es in der Regel nicht, denn der Verlust wäre vom Ego nur schwer zu verkraften. Meist wird deshalb das Entfolgen nur angekündigt: ein verzweifelter Versuch, durch radikale Drohung auf gleicher Ebene die Aufmerksamkeit zurückzuerlangen.
  • Übrigens: wären nicht narzisstische Kränkungen beteiligt, würden die #ibes-Meldungen einfach ausgeblendet: entweder ignoriert, es käme gar nicht zu dem Gefühl der Störung, oder aktiv durch die Möglichkeit des „Mute“ von Hashtags in Twitter. Es müsste kein Wort darüber verloren werden. Ein „Entnervtsein“ oder Ähnliches ist nur eine Verpackung, die dazu dient, die narzisstische Bedrohung, die in der Selbstwahrnehmung unbewusst als Schwäche oder Blöße empfunden wird, zu verschleiern.

Zu den letzten beiden Punkten hier ein Beispiel:

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Ausblick

Vor diesem Hintergrund, der natürlich noch detailliertere Analysen zulässt, ist das aktuelle Geschehen auf Twitter durchaus plausibel. Ich denke, dass die sozialpsychologische Betrachtung derartiger Phänomene einen wesentlichen Schlüssel zum Verständnis von Verhalten in sozialen Netzwerken darstellt. Spezielle Fälle wie dieser laden zur Erkennung von Reaktionsmustern ein, die, wenn auch weniger exponiert, in den meisten Fällen die Kommunikation massgeblich beeinflussen.

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