Bild: „Kuh in progress“ von Maren Martschenko

Gestern hab ich mal wieder viel Zeit damit verbracht, eine bei Kollegen als Beleg genannte Social Media Studie zum deutschen Markt zu suchen, erfolglos. Ich hangelte mich durch mehrere Blogs, von Abschreiber zu Abschreiber, um dann irgendwann entnervt in den undurchsichtigen Weiten eines US-Firmenportals aufzugeben. Das passiert mir öfter und mit jedem Mal wächst mein Groll gegen dieses unreflektierte Wiedergekäue von angeblich repräsentativen Erkenntnissen. Vor allem aber, wenn ich die Studie dann doch noch entdecke!

Mag sein, dass ich besonders empfindlich bin, weil ich eine naturwissenschaftliche Ausbildung habe. Oder ich bin sensibilisiert durch die Diplomarbeit meiner Frau, in der sie gerade ein Jahr lang Ergebnisse einer psychologischen Studie statistisch ausgewertet und vorsichtige Schlüsse gezogen hat: Was im Zusammenhang mit Social Media Studien abgeht, nervt mich gewaltig! Deswegen werde ich nicht müde, mit Einwänden wie diesem zu reagieren:

Nochmal: Es bringt nichts, Aktivität von Mitarbeitern mit der Aktivität eines Unternehmens im Social Web gleichzusetzen. Die daraus abgeleiteten Aussagen haben nicht den geringsten Wert. Im Gegenteil, sie tragen dazu bei, dass der wahre Zustand vernebelt wird, sich nicht mit der Selbstbeobachtung des Marktes deckt, und so Verunsicherung erzeugt.

Nur 37% der Firmen vertrauen Bildmarkierungen

Nicht nur, dass die Studien überwiegend auf völlig unzureichend aufgesetzten Experimentalgruppen beruhen und fast nie Kontrollgruppen einbeziehen, die Fragestellungen sind meist nicht präzise und können schon deshalb gar nicht zu verwertbaren Ergebnissen führen. In der Folge haben auch Schlußfolgerungen nur in den seltensten Fällen irgendeine Aussagekraft.

Das allein wäre weiter nicht schlimm, unprofessionelle Arbeit gibt es in jeder Branche. Und wer sich die Randbedingungen einer solchen Studie durchliest, weiß ja, was die Ergebnisse bedeuten. Aber was nun systembedingt durch das Kommunikationsverhalten im Social Web passiert, führt oft zur vollständigen Verschleierung des Hintergrundes: Die angeblichen „Ergebnisse einer Studie“ werden munter weiterverbreitet, wiedergekäut und dabei nach eigenem Gusto ausgerichtet. Mit Stiller Post zum lauten Post.

Schon 79% der deutschen KMU tweeten auf „Gefällt mir!“

Die Weiterverbreitung findet mutmaßlich natürlich deswegen statt, um auf Portalen und Blogs von „Social Media Experten“ vermeintlich neuen Content zu bieten und die vielen Leser durch stets Neues und Interessantes bei der Stange zu halten. Und bei der Gelegenheit werden noch zwei andere Fliegen mit der selben Klatsche erledigt: der Bedarf des Marktes wird schillernd dargestellt (wird dann besonders gerne zitiert und verlinkt) und natürlich die eigene Expertise untermauert. Deswegen wird auch noch ein bisschen was dazu geschrieben, leider selten eine eigene Einschätzung oder Meinung, sondern oft eher so eine Art Umformulierung des Bestehenden, aufgepeppt durch Adjektive wie „spannend“, „interessant“ oder „wichtig“. Der geschätzte Kollege Karsten Wusthoff hat dieses Drama besonders unterhaltsam beschrieben und erörtert.

60% nehmen Pinterest als strategisches +1-Tool für den Kurznachrichtendienst Xing

Fröhlich werden auch diese Postings wieder von anderen aufgenommen und bemerkenswerterweise verliert sich oft sehr schnell die Referenz zur ursprünglichen Studie. Ein Schelm, wer dahinter Kalkül vermutet. Andererseits: Wenn Content King ist, dann ist Zeit Queen. Wer zuerst postet, wird zuerst geliked, geteilt und verlinkt. Besonders bei so spannenden, interessanten und wichtigen Studienergebnissen. Wer ganz findig ist, kann dann aus einem schon durchgelutschten Studienergebnis eine Infografik erstellen, das fluppt oft auch nochmal beschaulich. So weiß dann irgendwann auch der Letzte, dass 79% der deutschen Unternehmen bei Facebook auf „Gefällt mir!“ tweeten und weitere 60% Pinterest als strategisches +1-Tool für den Kurznachrichtendienst Xing teilen.

Ich frage mich ernsthaft, welcher Vortragende einer der auf dieser Basis entstandenen ca. 12.000 Slides (davon exakt 25% auf Slideshare geteilt, laut meiner Studie mit vier Testpersonen) weiß, dass für die ursprüngliche Studie 12 Praktikanten von Hühnerfarmen in Westfalen befragt wurden. Apropos Hühnerfarmen: Nennt mich Nestbeschmutzer, aber ich bin meinen Zuhörern eine gewisse Objektivität schuldig, wenn ich schon von Untersuchungen rede.

Nur 12% der Twitter-Accounts sharen ein Fazit

Wenn ich eine Studie nenne und deren Ergebnisse zitiere bzw. bewerte, muß ich mich mit ihr auseinandergesetzt, oder sie zumindest im Original gelesen haben. Wenn ich in einem Artikel mit Ergebnissen argumentiere, muß ich die Studie verlinken, um zumindest dem Leser die Prüfung zu ermöglichen. Ansonsten schade ich letztlich der Glaubwürdigkeit der gesamten Beratungsbranche und trage für die wenigen, wirklich fundierten Studien zu einem gärenden Milieu des Misstrauens bei.

Nachtrag: Bemerkenswerte Aufschlüsselung zu diesem Thema von Dominik Kruisinger in seinem Blogbeitrag, lesenswert!

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